Too nervous to talk, little Ludwig gestured, helplessly.
Little Wittgenstein gestured, helplessly. A yet unfinished novel.
Cambridge, vor nun fast 70 Jahren, 1946. November, Donnerstag. Damals. 17 Uhr. Damals? Wo genau? In der Lobby des weithin bekannten, am Ufer des Lake Viktoria gelegenen, universitären Ruderclubs, den „Cambridge Cocks“, diskutierten zwei Männer, ihre Köpfe von Wissen getränkt, ihre Körper gemütlich in die tiefweichen, ledernen Clubsessel gekuschelt, jeder einen heißen Grog in Händen. Kaminfeuer. Natürlich, und draußen, draußen im Freien lag Nebel auf dem See, an diesem Nachmittag, wie angesogen von der dunklen Schwerkraft des Wassers. Ludwig, ja genau, Ludwig, der Philosoph Wittgenstein, saß also recht gemütlich gebettet im wohlig-weichen Ledersessel und blickte über die Schulter seines Gegenübers, hinaus auf die Terrasse. Dahinter war bei schönem Wetter, der See, und schließlich der Horizont zu sehen, doch heute, wie auch die letzten Tage, nur flirrendes Weiß. Ihm gegenüber, saß ein älterer Herr, Ludwigs kritischer Gesprächspartner, doch dazu später mehr. „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, dachte Ludwig, aus dem Fenster blickend. „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen,“ sagte Ludwig, seinen Blick wieder auf sein Gegenüber richtend. „Warum sprechen Sie dann diesen Satz überhaupt aus!“, polterte sein Gegenüber laut und dann weiter: „Der einzige Sinn dieses Satzes liegt doch darin, erst gar nicht ausgesprochen zu werden, ausgesprochen zu sein. „Aber was Sie hier betreiben ist doch ein hermetischer Dogmatismus! Sie bilden ein Idealsystem der Sprache, innerhalb bestimmen Sie die Regeln, und alles was außerhalb liegt, was nicht durch die Parameter und Methoden Ihres Systems beschrieben, als Phänomen erfasst werden kann ist schlicht und einfach nicht existent! „ Pfffffffft! „Ihr Dogma ist mir egal,“ ruft der alte Herr Wittgenstein zu und wirft dem Philosophen eine typisch italienische Handgeste entgegen, und wiederholt diese nochmal: Pffffffffffft! Wer war dieser Mann, der hier den Philosophen und seine Philosophie dermaßen kritisierte? Ludwigs Vis a Vis, ja, der Mann, der mit eigenwilligem italienischen Akzent sprach, war niemand geringerer als der italienische Ökonom Piero Saffra. Hätte er etwas später im 20. Jahrhundert gelebt, hätte man ihn von seinem Äußerlichen her, seiner dünnhäutigen Glatze und seinem leicht schiefen, jedoch nicht unsympathischen Mund, durchaus mit dem deutschen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verwechseln können. Nur seine Haut, sie war im Allgemeinen etwas bräunlicher, ja „südländischer“, wenn man das heute noch so sagen darf und seine Augen, die waren so braun und lebhaft wie die eines jungen Rehs. In den 1920er Jahren aus dem Süden geflüchtet, konnte man Piero nicht gerade als einen Freund Mussolinis bezeichnen, deswegen war er auch hier, in England, in Cambridge, seit 1928, auf die Vermittlung Maynard Keynes hin, des noch viel berühmteren Ökonomen. Es waren auch dessen Theorien, über die sie nun wöchentlich hier im club diskutierten, denn Europa war im Begriff, neu strukturiert zu werden, ökonomisch und soziopolitisch. Immer öfter jedoch endeten die Gespräche in ziellosen Diskussionen über die Philosophie Ludwigs, in ausschweifenden Monologen des Philosophen, die das südländische Temperament des Italieners auf das äußerste erregten. So kam es auch, wie es kommen musste, Saffra ließ sich auf keine Diskussionen mehr ein – sie trennten sich an jenem Novembertag, ohne weitere Treffen zu vereinbaren, auf unbestimmte Zeit. II) Wittgenstein in Hongkong. Zweifel an der Sache, aber: Love, Hate, Körper, Gesten, und: Neue Ideen. Wittgenstein versuchte zunächst Saffra‘s Kritik zu ignorieren, doch sie ließ ihn nicht unberührt. Saffras Worte kamen dem Philosophen immer wieder in den Sinn und an so manchem späten Abend, als er zum Schlafen bereit in seinem ruhigen und sorgfältig abgedunkeltem Zimmer lag, bewegten sich Saffra’s Worte, zuerst leise murmelnd, dann zu einer monströs tönenden Geräuschkulisse anwachsend, vom Inneren seines Kopfes her, durch die Gehörgänge, auch die kleinsten Knöchelchen und Membranen anregend, über seine Ohren nach Außen. Ohren wie Verstärkerröhren, die den Klang der Wörter in den Raum blasen, um ihn dann wieder aufzufangen, um den eigenen Kopf, den eigenen Ursprungsort zu plagen, bis dieser wieder erneut, diese Wörter über diesen nun bereits altbekannten Weg, ausspuckt. Zum einen Ohr rein, zum andern wieder raus. So schaute es damals aus, plagende Selbstreferenzialität herrschte in Wittgensteins Kopfzuhaus. Langer Rede, kurzer Sinn – auf jeden Fall traf Wittgenstein ein paar Monate später auf einem wissenschaftlichen Kongress in Hongkong den taiwanesischen Linguisten und vergleichenden Literaturwissenschaftler Wong-Kar-Bei. Zwischen Wittgenstein und Wong-Kar-Bei hatte es gefunkt, und das, obwohl sie nicht ein Wort miteinander sprechen konnten! Nach dieser Erfahrung konnte Ludwig Saffra‘s Einwände nicht mehr länger ignorieren, Wittgenstein hatte bisher in seiner Arbeit die aussersprachlichen Qualitäten der menschlichen Kommunikation vollkommen vernachlässigt. Diese Erfahrung brachte ihn auf die Idee, ihre Gesten , Wong‘s und die Seinen, in eine andere Form zu übersetzen, nicht um diese „besser lesbar oder verständlicher“ zu machen, sondern um sie in eine andere Form der Zeitlichkeit zu übersetzen, um dieser durch ihre Gesten erzeugten Form als Phänomen auf eine gewisse Art und Weise habhaft zu werden, um die zeitliche Vergänglichkeit der Geste in ihrer Performanz aufzuhalten und zu überführen in ein Bild, eine Studie, eine Zeichnung, ein Gegenüber, das eine andauernde Präsenz zulässt, auf deren unbewegter Oberfläche der Blick schweifen kann. So beschloss er, sich nicht an den Schreibtisch zu setzen um Text, um Sprache zu produzieren, sondern er richtete sich eine Werkstatt ein. Im schwebte der Bau einer ganz spezifischen mechanischen Konstruktion, eine Zeichenmaschine zur Übertragung von Kräften und Bewegungen in eine graphische Notation vor, ein Sitz- oder Liegeensemble, versehen mit einem runden Tischchen im Zentrum, rund um dieses im Kreis vier Stühle, worauf Freunde, Diskutierende, Trinkende, Feiernde und sprechende Menschen Platz nehmen könnten. Ein Stuhl-Tisch-Ensemble wie in einem Wiener Kaffeehaus, bar jeden Ornaments. ja, das ist es“, sagte er zu sich, als er eines Abends erschöpft aber glücklich neben Wong im ausladenden Bett seines Hotelzimmers lag. Das Laken des Bettes klebte an seinem Rücken, angefeuchtet durch den Schweiß seiner Erregung. Der Brustkorb des jungen Literaturwissenschaftlers neben ihm hob und senkte sich bedächtig, anmutig im Schlafe, schön. Weiter ging es in seinem Kopf: „Vielleicht bin ich wirklich genial, ein Genie. Im zarten Alter von Sechzehn Jahren vermutete ich, dass ich Jesus sein könnte. Die Wiederkunft des Geistes Jesus, gekleidet in modernes Denken, inkarniert in ein Körperchen, einen Sproß einer gewissen Familie Wittgenstein.“ Ludwigs Vorstellungen erschienen Ludwig plötzlich etwas abstrus. Wie aus dem Nichts sprang eine Kröte auf das Bett, direkt zwischen seine Beine. Obwohl es sich offensichtlich um ein Sumpftier handelte, war die Kröte nicht feucht, sondern ganz im Gegenteil – ihre Haut war bewachsen mit ganz bunten feinen Härchen, die sich ganz und gar wie ein Weizenfeld dem Wind ausgesetzt, wellenförmig bewegten. Plötzlich stieß ein Windstoß die Tür zur ausladenden Terrasse auf. Ludwig blickte nach links, doch Wong war verschwunden. Nur mehr der Abdruck seines jungen markigen Körpers war im Verlauf der Falten des Leintuchs noch leicht zu erkennen. Sein Blick folgte den Falten, sprang über auf den mit tantrischen Bildern verzierten Vorhang dahinter. Doch was stand hier? Ein riesiger Buchstabe ragte auf bis unter die Decke des Raumes, aus Sperrholz gefertigt, ein großes „A“. „IIIIIhhhhh!!!!“ kreischte Ludwig mit rasiermesserscharfer Stimme. An diesem „A“ fand sein schweifender Blick den jungen Wong-Kar-Bei wie gekreuzigt, mit Stricken an diesem Riesenbuchstaben angebunden war sein Körper, ganz erbärmlich hing er da, so wie ein nasses Handtuch, oder ein unbelebtes Stück bleiches Fleisch. Ebenso weich und widerstandslos, ganz unangespannt, erschienen nun auch andere Dinge im Raum: Die Lederriemen von Wong‘s Motorradjacke etwa, die tropische Wärme dieser schwülen Nacht hatte das Material aufgeweicht. Ganz schlapp erschienen auch die tantrisch verzierten Gardinen. Sie „doppelten“ Wongs‘ Körper in einer metaphorischen Weise. Plötzlich ging das Licht aus. Der Raum um ihn herum verschwand im Dunkel und schließlich verlor sich auch Ludwig selbst in der feuchten Schwärze des einsetzenden Schlafes. All dies, seine Ideen, die Maschine, erläuterte er am nächsten Morgen am Frühstückstisch, Wong starrte ihn einfach nur an, mit seinen großen Mandelaugen. Er trug ein kleines Muttermal in Form und Umriss dem italienischen Stiefels auf der rechten Wange, und trainiert war er – ein richtiges „Cornetto“! „Gelato!“ Rief Ludwig dem Kellner gedankenabwesend zu. Einige Tage später, an einem Mittwochvormittag, umgehend nach der finalen Schlussdiskussion des Kongresses, verließ Ludwig Honkong, indem er ein Schiff in Richtung Genua bestieg. Ihn fröstelte etwas, als er vom obersten Deck auf die Skyline Honkongs blickte. Auf dem Hafengelände, unterwegs zum Schiff, hatte er sich nämlich der ehemaligen Lederjacke Wong‘s entledigt, dieser hatte ihm das Kleidungsstück als Ausdruck der Zuneigung und Bekundung seiner angeblichen Liebe geschenkt. Also, auf dem Hafenareal, in ein halbleeres Ölfass, auf dem Weg zum Schiff nach Italien, hatte Ludwig diese Lederjacke geworfen, ja vor Hass geradezu hineingetünkt, denn, wie er herausgefunden hatte, wurde er in dieser letzten Nacht von Wong betrogen. Ja. Aufs Äußerste betrogen, im Fitnesscenter der Hotelanlage, das sich von Weitem gut sichtbar, auf dem Dach des Gebäudes befand. Nach einem Streit, der während des Abschlußdinners des Kongreßes zwischen ihnen ausbrach, nach einem Streit, der nicht das erste Mal in seiner thematischen Beschaffenheit ihre sonst recht idyllische Zweisamkeit gestört hatte, (Thema: die fleischreiche Kost Wong‘s, die fleischlose Kost Ludwigs;) war Ludwig zu Tode enttäuscht und beleidigt, zu einem mehrstündigen Spaziergang durch das nächtliche Hongkong aufgebrochen. Bei seiner Rückkehr, als er sich auf zirka 50m an das Hotel herangenähert hatte, konnte er die Umrisse zweier sich rhytmisch bewegender Körper erkennen, die sich von Innen her, gegen die transparente Glasfront des Fitnesscenters pressten. Das Studio befand sich im Dachausbau des Hotels. Nach einer weiteren Annäherung an das Hotel, während derer er fast über einen verlausten, schlafenden Straßenhund gestolpert wäre, kamen ihm die Bewegungen des hinteren Körpers plötzlich bekannt vor, auch die Form des Kopfes, des Halses und der Schultern, weckten in ihm erst Gefühle der Vertrautheit und des erotischen Prickelns. Er starrte. Die Sekunden verstrichen und er erkannte nun zunehmend die Zusammenhänge. Diese anfänglich doch recht positiven Wahrnehmungen wurden nun umgehend von einem Gefühl der Hitze überstrahlt, einer Hitze, die langsam in ihm aufstieg und von einem starken Schwindel und einem lauten Pfeifen in seinen Ohren begleitet wurde. Er fühlte sich „wie in einem Film“. Ja, liebe Leser, ich vermute, dieses Gefühl haben schon viele von uns durchlebt, auch ich, inklusive des Bodens, der nun auch Ludwig unter den Füßen hinweggezogen wurde. Black Out. Schwarzes Bild. ——————— Fade in. Wie ein Bühnenvorhang schoben sich die Türen des Aufzugs beiseite und gaben den Blick auf eine Szene frei, die Ludwig wohl besser hätte erspart bleiben sollen, doch jetzt war es bereits zu spät. Wie er hier heraufgekommen war, konnte er sich nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall umgab ihn nun schon wieder, für Sekundenbruchteile nur, eine kobaltblaue, koboldhafte Schwärze. Wie nach einem etwas zu lang dauernden Übergang zwischen einer filmischen Szene zur nächsten, erblickte er nun einen neuen Bildausschnitt vor sich: Das muskulöse Gesäß eines zirka 40 jährigen Mannes und eine Hand, die, wie sich später herausstellte, seine eigene war. Also diese Hand schob nun einen Y-förmigen Gegenstand aus Metall, übrigens eine aus Edelstahl gefertigte Halterung für Hantelgewichte, in die wie nach Luft schnappende Körperöffnung des Gesäßes ein. Das Poloch dieses Mannes, – legen wir nun unseren Augenmerk auf die formale Qualität des zweiten Buchstaben des Wortes, dieses O-loch, hatte in seinen kontrahierenden, sich schließenden und wieder öffnenden Bewegungen, in seiner Form und Bewegung, durchaus etwas von der runden Mundöffnung eines Fisches, der neben einem Angler am Ufer liegend, verzweifelt nach Luft statt Wasser schnappt. Wong’s Muskel also, der diesen liebevollen Ein- und Ausgang öffnete und wieder schloß, schien bestens trainiert zu sein. Dies hatte Ludwig auch schon am eigenen Leibe erfahren dürfen, sein Piepmatz reagierte sofort, unmittelbar nach dem Erblicken des rosa Löchleins. Zur Mitte hin ging dieses Rosa zunehmend in ein bläuliches Schwarz über, welch kosmischer Anblick! Angesichts der Krisenhaftigkeit der gegenwärtigen Situation hatte Ludwig für diese Dinge und Qualitäten jedoch kein Auge, seine Erektion war rein reflexartig, sie fiel ihm auch gar nicht erst auf. Da Wong seinen Anus vorher reichlich mit Gleitcreme benetzt hatte, gleitete der metallene Gegenstand trotz seiner Unförmigkeit von leichter Hand in die Öffnung und verschwand fast ganz darin. Ludwig hörte grelles, schmerzverzerrtes Schreien. Plötzlich löste sich aus dem Schreien heraus die Silhouette eines weiteren Körpers, der bisher durch die breiten Schultern Wong‘s verdeckt geblieben war. Ein harter Schlag traf Ludwigs Gesicht, er blickte auf einen roten im Raum schwebenden Fleck, der leicht pulsierte und auf ihn zu- und wieder wegschwebte. Seine linke Gesichtshälfte begann vor Hitze zu glühen und dann folgte ein noch lauterer Knall. Bammmmmmm!!! Dann Schwarz, Black out, Burn out, Knock out. Schwarz, schwarz, schwarz, schwarz. Nacht, Ohnmacht. Dauer. Wie lang? Keine Ahnung. Ludwigs Muskeln zitterten. Er spürte eine feuchte Kälte von seinem Gesicht aus in die Arme kriechen. Das Kältegefühl wurde zur Stirn hin zunehmend intensiver und gipfelte dort in einem wahren Kälteschmerz. Fade in. Er öffnete die Augen, er stand in kniehohem Gras. Vor ihm tat sich eine weite Landschaft auf, nur von wenigen sanften Hügeln durchsetzt, zog sie sich bis zum Horizont. Dort, in der Ferne hinter atmosphärischen Dunstschleiern gelegen und nur noch vage erkennbar, eine Gebirgskette mit schneebedeckten Gipfeln. Zirka zehn Meter vor ihm, stand ein nackter Mann. Tief und schräg fiel das spätnachmittagliche Sonnenlicht auf den Rücken des Körpers, und betonte so auf sinnliche Art das Spiel seiner Muskeln, als er sich langsam bückte um sanft versteckt im hohen Gras, seine Notdurft zu verrichten. Wie Ludwig so dastand und dieses Naturschauspiel beobachtete, spürte er plötzlich wieder diesen pochenden Kälteschmerz auf seiner Stirn. Er tastete nach ihr mit seiner Rechten, während er sich mit seiner Linken selbst befriedigte. Mit seiner Hand konnte eine Erhebung seiner Schädeldecke feststellen, mehr noch, er konnte diesen knöchernen Auswuchs abtasten, Wittgenstein tastete und tastete diesen Auswuchs entlang, der nun ja schon weg von der Stirn führte, bald konnte er ihn mit seinen Fingern umlangen, was mit zunehmender Entfernung von seinem Kopf einfacher wurde. Leider war schließlich sein Arm zu kurz, um diese Verknöcherung in ihrem vollen Ausmaß abtasten zu können. Der Schmerz, das Pochen und diese Kälte waren nun nicht mehr ertragbar. Ludwig schloß seine Augen. Fade out. Black. Schwärze. Gefühlt, mindestens hundert Jahre. Fade in. Ein stechender Schmerz. Die Stirn. Ein verschwommenes Bild, doch es wurde klarer. Etwas drehte sich vor ihm – eine Schiffsschraube? „Ich befinde mich also unter Wasser“. Ludwig hielt die Luft an, bis er nicht mehr länger konnte. Minuten wie Stunden. „Zu sterben, so fühlt es sich also an.“ dachte er sich, träumend. Das Bild der rotierenden Schiffsschraube vor ihm wurde wieder verschwommen, die Farben wurden bunter, pulsierender. Fade out. Black. Fade in. Begleitet von einem kurzen, spitzen Aufschrei schnellte sein Oberkörper vom Boden hoch. Durch diese Bewegung beschleunigt, raste der Gefrierbeutel voller Eiswürfel, der gerade noch auf seiner Stirn gelegen hatte, auf die Decke des Raumes zu und wurde noch vor seinem Aufprall durch die tropenhölzernen Blätter des Deckenventilators zerhechselt, ja zu Crushed-ice transformiert und so verteilten sich nunmehr tausend kalte Splitter in alle Richtungen des Raumes und verwandelten sich der tropischen Hitze wegen, sogleich in feine Wassertröpfchen, die wie kleine schwebende Prismen das morgendliche Sonnenlicht in alle Ecken des Raumes streuten. Getroffen durch die kalten Splitter, schreckte Wong aus seiner Lethargie auf. Auf einem bequemen Fauteuil liegend, hatte er Ludwigs Umnachtung beobachtet und dabei unaufhörlich mit seinen Zehen nervös gewackelt. Fest und angespannt umschlangen seine Finger ein Glas Suntory, als er vom verwirrt dreinschauenden Ludwig angestarrt wurde, der nun vor ihm, im Schneidersitz auf dem Teppich saß. Über dem Kopf des Philosophen erschien nun, für einige Augenblicke nur, ein Regenbogen. Dieser bog sich vom Bett aus, hoch über Ludwig hinweg, bis weit über den Schrank. „Es tut mir leid“, sagte Wong. „Ich habe den muskulösen Trainer am Buffet beim Dinner gestern Abend kennengelernt und wir haben zusammen einen Calamare gegessen während du beleidigt in der Stadt unterwegs warst.“ Ludwig verstand nichts, waren doch die Worte in Mandarin, die Wong zu ihm sprach. Doch Wongs nervöse Gesten beim Sprechen, der komische Geruch des Haargels in seinen Haaren, (Wong verwendete normalerweise nie Haarpflegeprodukte), und schlussendlich das komische Basketball-shirt, das dieser zunehmend befremdlich wirkende Mensch am Körper trug, ließen die Ereignisse der Nacht wieder in sein Gedächtnis zurückkehren. Der Fitnesstrainer!!! – jetzt erkannte Ludwig wieder die Zusammenhänge. Langsam legte er sich wieder nach hinten, auf seinen Rücken. Über ihm drehte sich der Ventilator. Noch immer tropfte es vereinzelt von dort oben herab. Der Teppich unter ihm wirkte kalt und feucht. Doch dies spürte Ludwig nicht. Alle Inhalte waren aus seinem Bewusstsein verschwunden. Anfangs nur unmerklich, aber dann stetig mehr, zitterte sein Körper. Dann Wong’s Gesicht über ihm, diese scheiß Asiatenvisage, diese Augen, schön und verbrecherisch zugleich, so als wären sie Teil eines größeren, noch nie gesehenen Musters, eines riesigen Ornaments. Doch in Ludwigs innerem Raum, seiner Psyche, bevölkerten nunmehr keine wunderbaren Sterne mehr das Firnament. Fade Out. Es herrschte pechschwarze Nacht. Fade In. Vor Ludwigs Augen erscheinen zwei laufende Beine, im spätvormittäglichen Sonnenlicht, es waren seine. Ebenso schoben sich zwei mit Leder bekleidete Arme abwechselnd in sein Blickfeld. Er konnte sich nicht erinnern, wie er das Hotelzimmer verlassen hatte, was noch passiert war. Er wusste nur, er spürte es, dass er weg musste, Schnell, schneller. Der Kongreß war vorbei, das Schiff würde den Hafen verlassen, um Halb Drei, aus die Liebelei. In engen Gassen wich er einer Pyramide von Wassermelonen aus, die ein kleiner Junge vor sich herschob, sprang über mehrere Vogelkäfige, rollte sich unter einer Prozession von hängenden Schweinekörpern hindurch, die von mehreren kräftigen Frauenschultern getragen, an dicken Bambusstangen befestigt, die enge Gasse versperrten. Die verschiedenen Gerüche um ihn, das pralle Sonnenlicht und der steigende Puls, all dies ließ ihn wieder näher heran, näher an das Gefühl „von sich selbst“, an die ganz ihm eigene Wahrnehmung seiner Persönlichkeit, unbeeinflusst von jeglicher Selbstverlorenheit durch die liebesmäßige Hingabe an jemanden anderen. Dieses ursprüngliche Gefühl, dieses klare Bild von ihm selbst und der Welt rund um ihn herum, hatte er in den Tagen des Kongresses zunehmend, und von ihm ganz unbemerkt, aufgegeben, ja, sogar verloren. Er selbst war seinen eigenen Händen entglitten, wie ein vor lauter verliebtem Schmachten ganz glitschig gewordener Fisch. Problematisch wird diese Selbstverlorenheit für viele, wenn sie zu etwas Schmerzhaftem und Quälendem wird, zu einem klaffenden Loch, zu einer Leerstelle, die nur durch das Begehren von jemandem anderen gefüllt werden kann. Richtig bewusst wird einem diese Selbstverlorenheit nur durch die Gleichgültigkeit, des Anderen einem selbst gegenüber und sei dies nun durch betrügerisches Fremdgehen, niederträchtiges Verhalten gepaart mit abschätzigen Bemerkungen, Nörgeleien oder was weiß ich. Wenn man jemanden liebt und dieser Jemand lässt einen auf das niederträchtigste fallen und poliert sich damit vielleicht auch noch das Ego auf, dann erkennt man, dass man bis zu diesem Augenblick selbstverloren war und sich auf das naivste ausgeliefert hat. Wer geliebt wird ist mächtig. Gib einer Person Macht und es zeigt sich ihr wahrer Charakter. Ludwig hatte das Hafengelände erreicht. Die Veranstalter des Kongresses hatten für ihn die Kosten der Rückfahrt von Hongkong nach Genua übernommen. Genua liegt in Italien. Im Gegensatz zu den repräsentativen Dinees während des Kongresses, hatte dieses, nun auf seine Passagiere wartende, im Frachthafen von Hongkong liegende Schiff etwas schäbiges und armseliges. Doch Ludwig war das jetzt auch egal. Er hatte diese pseudo-interlektuelle Scheisse eh satt, diese Kongresse, besonders diejenigen der Geisteswissenschaften, waren um es geradeheraus zu sagen, Modeschauen des schäbigen Intellekts, Tribunale der „Political correctness“ und Schlachtfelder der Eitelkeit. Gestern Strukturalismus, morgen Existenzialismus, übermorgen geht man auf die Post, und überübermorgen redet man über spekulatives Allerlei. „Rauf aufs Schiff, da gibt’s fesche Matrosen, mit Ankern und so Zeug, tätowiert auf muskulösen Körpern“, dachte sich Ludwig, als er auf den linken Ärmel der Lederjacke blickte. Ja, es war Wong’s Lederjacke. Warum er sie nun trug und wie es dazu gekommen war, war ihm entgangen. Hatte Wong sie ihm in einem Anflug von Mitleid gegeben? Oder hatte Ludwig ihm die Jacke im Wahnsinn des Trennungsschmerzes entrissen? Egal, das tut hier nichts zur Sache. Also blickte er eben auf diesen Ärmel, auf diesen fleckigen Ärmel. Flecken, die zur ihrer Mitte milchig und durchsichtig , zu ihren Rändern hin aber weißer wurden und nach außen, in der Struktur des schwarzen Leders leicht ausfransten. Diese Flecken stammten nicht von ihm und auch nicht vom Zähneputzen, na ein „Happy ending“ war das nicht gerade jetzt, dachte er sich, ekelte sich und schlüpfte schnell aus der Jacke, knüllte sie zusammen und warf in ein halb volles Fass voll mit Altöl. Endlich. Erleichterung. Er stocherte noch mit einer rostigen Eisenstange nach, um die Jacke auch vollends zu versenken. Es fröstelte Ludwig etwas, als er vom obersten Deck aus auf die Skyline von Hongkong blickte. Mit der vom Meer her strömenden Luft, kamen auch neue Gerüche, die er tief und sehnsüchtig einatmete, sodass sich seine Nasenhaare im salzig-warmen Luftsog kräuselten. Ludwig lehnte sich vorne über die Reeling und konnte seine Niesattacken nicht länger unterdrücken. Da klopfte ihm auch schon eine starke fleischige Hand auf die Schultern. „Hi my friend“ zwinkerte ihm ein trainierter Matrose zu, er hatte am Unterarm einen Anker tätowiert, der von zwei Meerjungfrauen gehalten wurde. Deren Brüste, ja genauer die Nippel, waren in der Form von kleinen Propellern gezeichnet, die in diesem Falle wohl eher Schiffsschrauben hätten darstellen sollen. Verschmitzt lächelte ihm der Matrose durch seine pfiffige Zahnlücke zu. Die sonnengegerbte Bräune seines Gesichtes ließ seine übrigen Zähne weiß erstrahlen, und darüber, in strahlendem Blau, blitzten seine Augen, bannten neckisch Ludwigs Blicke. „Achtundzwanzig, vielleicht Neunundzwanzig“, dachte sich Ludwig, „Russe, eventuell.“ Er spürte innerhalb weniger Sekunden eine Erregung aufsteigen, er drehte sich wieder der Skyline zu, um seine körperliche Reaktion durch ein sanftes Anschmiegen an die Reling, vor den Blicken des wilden Matrosen elegant zu verstecken. Die Skyline war bald von einer horizontalen, minimalen Linie ersetzt, die sich leicht schwankend auf- und ab bewegte. Der Matrose hinter ihm war nun längst verschwunden und der Wind zu einer steifen Brise angeschwollen. Die Lederjacke fehlte ihm nun wirklich. Doch die Kälte die er spürte, unterstrich auch die Freiheit, die er nun wiedererlangt hatte. Er ging in die Kajüte, wo er für die nächsten drei Wochen residieren würde, mit zehn anderen Männern, Geschäftsreisenden, einem Meteoritenhändler aus Uruguay, einem Artisten aus Karachi und zwei deutschen Vermessungstechnikern. Er streckte sich auf einer Decke aus, den exotisch riechenden Seesack eines Matrosen als Polster benutzend, entschlief er sanft. Tag um Tag, Horizonte um Horizonte. Immer diese waagrechte Linie, die zwei Flächen zueinander, nebeneinander stellt und voneinander trennt. Unterschiedliche Lichtstimmungen, Schattierungen und Farbmischungen. William Turner kam ihm in den Sinn. Zu kitschig. Malewitsch. Hm. Es ist immer ein „Ins-Verhältnis-Setzen“ um das es geht, kein sprachliches Zeichen würde Sinn machen ohne ein anderes, keine farbliche Wirkung einer Fläche ohne den Kontrast der sie umgebenden Farben. Binnenwahrheiten, nicht? Binsenwahrheiten? Österreichische Binnenwahrheiten? Davon gibt’s genug, auf jeden Fall. Er musste nun wieder an sein Londoner Treffen mit dem italienischen Ökonomen Piero Saffra denken, der ihn des sprachlich-hermetischen Dogmatismus bezeichnet hatte. Dass Tatsachen und Zusammenhänge von Dingen und Zeichen nur vermittelst der Sprache an das Licht der Welt treten könnten – ———— hatte Saffra als eine zu verkürzte Sichtweise auf die Welt kritisiert und als der Ökonom dies tat, gestikulierte er wie wild, so wie es Süditaliener, oder genauer Neapolitaner, eben gewohnt sind, beim sprechen. Diese Gesten, die für Eingeweihte genauestens lesbar sind, ja eine Brutalität der Eindeutigkeit vermitteln, wie es die Sprache in ihrer Ambiguität niemals schaffen würde, – – – diese Gesten hatte Ludwig angeblich einfach ignoriert, übersehen, aus seiner Philosophie ausgespart. Auch die Erfahrung mit Wong, diese schnell aufflammende Liebe war rein auf die Verständigung durch Mimik und Gestik gebaut, dass sie auch ohne jede Möglichkeit der sprachlichen Verständigung entstehen konnte, beeindruckte ihn im Besonderen,—— Wong mit seinem Japanisch- und Mandarinkenntnissen und Ludwig mit seiner deutschen, englischen und lateinischen Sprache. „Meine Philosophie ist also mangelhaft“, dachte er sich, als er am neunten Tag auf dem obersten Deck auf das Mittagessen aus der Kombüse wartete. „Mangelhaft, weil sie immer gleichzeitig das nicht fassen kann, was ihre eigene Bedingung ist, das Medium der Sprache selbst! Genau so wie niemals diejenige Fläche des Bodens zu sehen ist, auf der man gerade steht, während man spricht, denkt und handelt.“ Als er sich über die Reeling beugte und hinunterblickte, fand er eines der Bullaugen offen, es musste die Kombüse sein, denn ein Geruch von gebratenen Zwiebeln entströmte diesem Loch. Ausserdem führte eine Schnur aus dem Dunkel der Öffnung nach aussen, hinunter bis kurz über das gischtende Wasser. Er konnte nicht sofort erkennen, was da, an dieser Schnur befestigt war. „Sieht aus wie eine dieser Flaschen für Sojasauce“, dachte er sich, „Kikkomann“ vielleicht, mutmaßte er. Was dies bedeutete, oder welchen Zweck diese hängende Flasche erfüllen sollte, war ihm ein Rätsel. Wie aber diese Flasche so hin- und herpendelte, wie die Bewegungen des Schiffes und der Luft auf sie einwirkten, all dies erinnerte ihn wieder an seine Idee, sich nun aus der Sprachgebundenheit seiner Philosophie zu verabschieden, denn wie könnte er dem Körper, den Bewegungen des Körpers beim Sprechen, wie hätte er dies nur je beschreiben können, ja beschreiben, höchstens, auf das notdürftigste, doch da bleibt nichts, rein gar nichts Brauchbares übrig, höchstens vielleicht ganz nette literarische Beschreibungen von etwas, doch darauf könne die Welt getrost verzichten. |